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Markus Kurz - Radio Dreyeckland Freiburg - Jazzredaktion


André Nendza Septet - Songs from a Red Notebook
(ANA 1004 - FONO)


Mysteriosum Faszinosum. Zitate aus den literarischen Trips des amerikanischen Schriftstellers Paul Auster webt der junge Leverkusener Kontrabassist und Komponist André Nendza zwischen seine Kompositionen auf der CD „Songs from a Red Notebook“.

„The Red Notebook“ ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, teils erzählt aus dem wahren Leben von Paul Auster, teils von seinen Freunden oder Bekannten ihm mitgeteilt. Die Gemeinsamkeit dieser Short Stories besteht in den haarsträubenden „Zufällen“, die sich darin ereignen oder einfach passieren. Paul Auster läßt dabei den Leser mit ungläubigem Erstaunen im Regen stehen, und er mag selbst den Schluß ziehen, ob deterministische Elemente walten oder wirklich die pure Willkür, der Lauf der Dinge, der diese Ereignisse so geschehen ließ.

Wer zumindest einige der Geschichten und Romane von Paul Auster kennt, fragt sich sicher, wie man diese Literatur der Extremsituationen, der offenen Spannungen zwischen Determinismus und Zufall, in eine musikalische Ebene bringen kann. Von dieser Neugier erfaßt, war ich gespannt wie selten darauf, Musik zu hören. Wie könnte sich etwas anhören, das den Geist dieser unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeiten atmen soll? André Nendza zaubert eine faszinierende Melange aus den literarischen Fragmenten des Paul Auster und seiner eigenen Musik, die manchmal unzusammenhängend erscheinenden Fetzen aus Wort und Musik am Ende wie ein kompliziertes Puzzlespiel zusammensetzend. Es ist Musik, die Mysterien ergründen will und dabei selbst neue stellt.

André Nendza war - natürlich - fast per Zufall auf die Bücher Paul Austers gestoßen. Am Anfang des ausführlichen Booklets zur CD erklärt er: „Jeder um mich herum redete von dem Film ‚Smoke‘ von Wayne Wang. In diesem Zusammenhang fiel mehrmals der Name des Schriftstellers Paul Auster. Wie immer habe ich es nicht geschafft ins Kino zu gehen, aber ich habe mir das Buch ‚The New York Trilogy‘ besorgt. Nachdem ich es ausgelesen hatte war ich - irritiert. Trotzdem mich die Sprache und die Geschichte gefangen nahmen, war für mich am Ende dieses Buches etwas offen geblieben. Ich dachte aber trotzdem weiter darüber nach, was mich schließlich zum Buch ‚Moon Palace‘ führte. Nach dieser Lektüre war ich fasziniert von der Literatur Paul Austers. Während des letzten Jahres las ich fast jedes Buch von ihm und schaffte es sogar ‚Smoke‘ (und ‚Blue in the Face‘) auf Video zu sehen. Da meine Arbeit als Komponist oft von anderen Künsten beeinflußt wird, war es wie selbstverständlich für mich die Suite ‚Songs from a Red Notebook‘ zu schreiben. ich habe versucht bestimmte atmosphärische Stimmungen der Romane Paul Austers in meiner Musik einzufangen. DIE MUSIK SOLLTE NICHT ALS PROGRAMM-MUSIK VERSTANDEN WERDEN. Ich würde es eher als Inspiration für andere sehen, diese Romane selbst zu lesen.“

Die künstlerischen Leistungen anderer aufnehmen und in seine eigene Arbeit zu integrieren, etwas Neues daraus zu machen, in einen völlig anderen Kontext zu bringen, war schon immer die Fähigkeit aller kreativen Künstler. André Nendza inhaliert mit seiner Musik die Zitate aus den Büchern Paul Austers, macht sie sozusagen zum integralen Bestandteil eines „Greater Good“, eines Größeren Ganzen. Die zwischen den meist längeren Musikblöcken auftauchenden und wieder verschwindenden Zitate, treffend mit „Methods of Diving“, Methoden des Untertauchens, des Eintauchens oder Eindringens (in eine andere Wirklichkeit?) bezeichnet, bilden zusammen mit der Musik eine faszinierende Synthese, die einer nie geahnten Fortführung der literarischen Methoden Paul Austers mit anderen Mitteln entspricht. Nendza spricht von ihnen als „Tor zum folgenden Musikstück, nicht gedacht um die Gedanken und Gefühle in eine bestimmte Richtung zu lenken.“

Selbst losgelöst vom Hintergrund dieser Geschichten strahlt die Musik des Septetts eine außergewöhnliche Homogenität aus. Kontraste zwischen ruhigen, intensiven Passagen und sehr dicht gewobenen Soundteppichen lassen dem „Leser“ dieser Musik Freiräume für eigene Imaginationen. Rhythmisch vielschichtig, wechseln sich folkloristische Motive mit Balladenspiel und packenden Riffs ab, die mitunter in freies Chaos abdriften. Besonders die aufgelockerten Bläserpassagen von George Tjong-Ayong an der Flöte, sowie Oliver Leicht an der Klarinette, die beide auch Saxophon spielen, gefallen mir hervorragend. André Nendza gibt auch kurze Notizen zu den einzelnen Musikpassagen im Booklet: „‚Air‘ wird durchzogen von einer fließenden, wellenartigen Bewegung“, die trotz des Reichtums an Kontrasten über das fast 15-minütige Stück andauert. „‚Caves‘ basiert auf einer folkloristischen Melodie, die mich irgendwie an die Gesänge der Indianer erinnert, die ich in meiner Kindheit gehört habe. Zuerst ruft es eine Art Gespenstigkeit hervor, später entwickelt es sich mehr und mehr in ein massives Tutti.“ Einzelne Passagen lassen sich im Grunde nicht hervorheben, die CD ist angelegt als Suite und sollte auch als ganzes gehört werden. Die Zeit von fast 75 Minuten sollte man sich gönnen.

Das Booklet schließt mit einem Statement von Paul Auster, der die Musik André Nendzas gehört hat. Es hätte vielleicht eine weitere Geschichte in seinem Roten Skizzenbuch werden können.


>Vorgestellte< Titel (alle komponiert & arrangiert von André Nendza):

Besetzung:

Aufnahmedatum: August 1997


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© markus kurz 98.12.06